
Limited Blindness - Berlin
Betreten wir das Schiff. Die engen, verwinkelten Räume lassen einen schnell die Orientierung verlieren. Der Stahl des Frachtschiffes speichert neben dumpfer Feuchtigkeit auch das Gefühl der Bedrohung, den Nervenkitzel der beginnenden Reise. Ein Blinder erwartet die Besucher, er weist den Zuschauern den Weg in dieser unwirklich-fremden Stahlwelt. Im nächsten Raum stehen sechzig Stühle. In der Dunkelheit wird der Besucher von Klängen einer akustischen Gitarre umfangen. Eine freundliche Stimme begrüßt das Publikum, sie kommt aus der Ferne.
In der Dunkelheit entsteht eine Klangwelt, die Wände des Frachtschiffes bilden einen Resonanzraum, die Imagination schafft sich ihren eigenen FreiRaum.
Ausgehend von dieser grundlegenden Anordnung entsteht ein musikalisch-theatrales Panorama, kreisend um wesentliche Energien des Kieler Matrosenaufstandes: Aus Lautsprechern erklingen von verschiedenen Seiten historische Geräusche: Aschfallklappen, Feuertüren, Lenzpumpen, Ventile, Torpedowerkhallen, von weit her hört man Sprechchöre, Rufe nach Brot, Matrosenlieder. Plötzlich hebt eine Rede an. Im Zittern der Stimme spürt man das Aufflackern von Freiheit. Hoffnung. „Kein weiterer Kriegswinter!“ Frühling im November.
Die Dynamik der Masse wird im Dunkeln spürbar, der Zug der Revoltierenden schwillt an. Vom Vieburger Gehölz ziehen Matrosen und Arbeiter durch die Hamburger Chaussee, stürmen eine Waffenkammer, am Bahnhof schließen sich weitere Soldaten an. Am nächsten Tag der Aufbruch nach Berlin, in die Reichshaupstadt. In der Dunkelheit konkretisiert sich eine imaginäre Kartographie. Orte, die wir als Konsumpunkte und Bushaltestellen kennen, sprechen so von ihrer Historie. Das Drama im Dunkeln entsteht mit Materialien historischer Zeugnisse.
Drei Schauspieler, ein Sänger und ein Musiker erwecken die historischen Fragmente der Freiheitssuche zum Leben: die Dialogstruktur löst sich auf, neue Stimmen kommen hinzu, der Gesang zerfällt in eine Stille, in der das Publikum selbst hervortritt. Struktur und Dynamik des Sprechens entkoppeln zeitweise die Texte von ihren repräsentativen Momenten. Stattdessen schafft das rhythmische Zusammenwirken von Sprache und Musik veränderliche Raumdimensionen, es rückt die Schauspielerkörper in unmittelbare Nähe, es öffnet in völliger Dunkelheit Momente für das Träumen der Zuschauer. Der Bunker als Werk des Krieges wird zur Grotte, zum Ort gemeinschaftlichen Vertrauens, einer Intimität des Träumens, eines Imaginierens möglicher Freiheiten.
Am Ende wird das Licht eingeschaltet. Die Gegenwart mit ihrer Verantwortung für die Vergangenheit sowie für eine zukünftige Gemeinschaft hat uns wieder eingeholt.
Textelemente (Auswahl): Interviews mit Matrosenkindern, Lothar Popp (Erinnerungen), Karl Artelt (Reden), Karl Marx, Rosa Luxemburg, Max Weber, Ernst Toller
Schauspiel / Gesang: Caroline du Bled, Thomas Gerber, Martin Heesch, Martin Luth, Frank Scheewe
Musik: Mario Kopentz
Bühne / Technik: Martin Hackländer, Andreas Böhme
Produktionsassistenz: Katharina Sattler
Text: Fabian Larsson
Inszenierung: Fabian Larsson und Heiko Michels.
Vorstellungen am 09.11. und 10.11.2009 um 20:00 Uhr beim Festival TVD09, Frachtschiff Helene, historischer Hafen Berlin, Märkisches Ufer, 10179 Berlin